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Sei ein Flamingo

Habt ihr schon mal etwas über Colitis Ulcerosa, Morbus Crohn und Co. gehört? Seid ihr vielleicht selber betroffen und habt einen Fragenkatalog mit Antworten, die euch offensichtlich keiner geben kann?


Ich bin die, die Nachts lange wach sein will. Die durchs Leben toben will. Die unaufhaltsam Leben fließen lassen will, mit all den Facetten, die dazu gehören. Möchte Nächte durchzechen, auf Dächern, der Stadt das Bier zischen, Kippen rauchen, Wellen tauchen, aneinander brauchen und Katzen fauchen - hören, in den Gassen dieser Stadt. Ich bin die, die 1000 % gibt, jeden Tag, weil ich es so mag. Ich bin die, die mit ihrem Rad 10.000 Kilometer im Jahr durch die Gegend fährt, andere mit Ratschlägen nährt, alles mit sich klärt und alte Klamotten aus Nachhaltigkeitsgründen färbt. Ich schwenke bunte Flaggen inmitten einer Herde von Menschen, die das gleiche meinen, mag das Leben echt gut leiden, dunkle Tage gilt es mit Rauschmitteln zu verkleiden und schlechte Gefühle gar zu vermeiden. Nein Friedefreudeeierkuchen gibts nicht, aber kommt schon, am Ende des Tunnels scheint doch für jeden von uns wieder Licht. Knall. Bang.Boom.Raus. Stillstand und hört her...


Ich habe Colitis, aber die Colitis hat mich nicht. Mit 25 Jahren, also fast vor einem Jahr, erhielt ich die Diagnose. Eine Krankheit, von der ich noch nie in meinem Leben gehört habe. Ich wusste nichts von chronisch entzündlichen Darmkrankheiten. Ich wusste nicht, dass sich von nun an mein Leben komplett verändern wird. Ich wusste nicht, was es bedeutet, wirklich achtsam mit sich umzugehen, was es bedeutet und wie es sich anfühlt, sein Leben komplett ändern zu müssen. Ich wusste nicht, wie viele unterschiedliche Gefühle man auf einmal haben kann. Und ich habe noch nie so starke Schmerzen verspürt wie in den Schubphasen, die ich durchlebt habe. Man sagt, dass CED Patienten schlimmere Schmerzen durchleben als eine Frau bei der Geburt - und das soll schon was heißen. Ich wusste nur eins am Tag der Diagnose: Ich war und bin froh überlebt zu haben. Ich bin froh, dass wir im 21.Jahrhundert leben. Ich bin dankbar, dass ich kein Krebs habe und dankbar, dass es Wege aus den schlimmen Schubphasen gibt. - Eine Schubphase macht sich anhand von 10-30 dünnflüssigen, eventuell blutigen, Stuhlgängen pro Tag bemerkbar. Dabei verlierst du viel an Gewicht, an Energie und an Freude. Ich konnte eigentlich gar nichts essen, habe lange Zeit Flüssignahrung zu mir genommen, weil mein Darm nicht dazu in der Lage war, feste Nahrung zu verarbeiten. Ich habe so viel Blut verloren, dass ich jede Woche mehrmals am Eisentropf war. Ich war blass, schlapp und habe nur geschlafen. Ich hatte einen mittelschweren bis schweren Colitis Ulcerosa Verlauf mit lebensbedrohlichem Blutverlust, am Tag der Diagnose habe ich nur noch 48 Kilogramm gewogen (normalerweise wog ich immer 57-58 Kilogramm). Ich habe einen Schwerbehindertenausweis, obwohl ich von außen überhaupt gar nicht "behindert" aussehe. Man sieht mir meine Krankheit nicht an. Manchmal Segen, manchmal Fluch. Fluch, weil dir kaum jemand Glauben schenkt, wenn es dir schlecht geht, weil es ja "nur" Bauchschmerzen sind. Fluch, weil dir jemand mehr Aufmerksamkeit schenkt oder dir Hilfe anbietet, wenn du offensichtlich ein gebrochenes Bein hast und nicht wirklich gehen kannst. Fluch, weil es ein absolutes Tabuthema in der Gesellschaft zu sein scheint darüber zu reden. Man wird nirgends eingestellt, wenn man frühzeitig offen und ehrlich kommuniziert, dass man diese Krankheit nun mal hat und sie ausbrechen könnte. Man wird nicht mehr mit eingeplant auf Geburtstagen oder ähnlichem, weil die Angst der Anderen zu groß ist, dass man wieder absagt und sie mit dieser Enttäuschung nicht wirklich umgehen können. Ich habe Verbrennungen an meinem Bauch, hatte Hautveränderungen, die überall am Körper zu sehen waren, musste meine langen Haare, die ich über alles geliebt habe, abschneiden, weil sie so kaputt durch die ganzen Strapazen waren, habe eine deutliche Verschlechterung meiner Augen zu spüren bekommen und merke jeden Tag, dass sich mein Alltag deutlich eingeschränkt hat. Gehen meine Freunde spontan essen oder fahren auf ein Festival, bin ich gezwungen zu überlegen, was ich mitnehme, wo ich gut verdauliches Essen her bekomme, wo ich es zubereite, wenn ich unterwegs bin oder wenn gar nichts von diesen Dingen klappt, wo die nächste Toilette ist. Schmeiße oder gehe ich auf eine Party, weiß ich, dass ich länger brauche, um mich wieder zu regenerieren. Wir sprechen hier nicht nur von einem Katersonntag, sondern von einer Regenerationsphase von zwei bis drei Tagen. Ich weiß, dass ich nicht wirklich Alkohol oder andere Substanzen zu mir nehmen sollte, weil es meinem Darm schadet. Ich weiß, wie wichtig es ist regelmäßige Routinen a la gesunder Schlafrhytmus, Ernährung und Bewegung zu haben. Ich weiß, wie wichtig es ist, ständig bei sich zu bleiben. Aber wie zur Hölle soll man alles in so einem Alter, in dem es doch eigentlich primär um Genuss und Aufbau der Lebens/-Wertevorstellung ohne Schmerzen geht, meistern? Ich wurde ausgebremst und werde dies an manchen Tagen immer noch.


Eine chronisch entzündliche Darmkrankheit zu haben, bedeutet jeden Tag zu wissen, dass es durch Faktoren, wie Stress jeglicher Form oder schlechtem Essen wieder schnell und rasant bergab gehen kann. Es bedeutet aber auch zu erkennen, zu wissen, wer in deinem Umfeld zu dir hält, wer wirklich deine Freunde sind. Eine CED ist kein bloßer Schnupfen, der morgen wieder gehen wird und dass musst nicht nur du akzeptieren und annehmen, sondern auch dein Kreis, in welchem du dich bewegst. Du solltest auf keinen Fall deine Krankheit totschweigen oder tabuisieren. Deshalb heißt es die guten, schmerzfreien Tage dankbar auszukosten, aber auch annehmen und akzeptieren, wenn der Körper eine Pause braucht. Fang dich bloß nicht an zu rechtfertigen, wenn du diese Ruhephasen benötigst. Gute Freunde bzw. Familie werden das verstehen und versuchen für dich da zu sein - zur Not auch einfach mit im Bett oder gar im Krankenhaus - und die anderen braucht man sowieso nicht. Wer dir doof kommt, dem kommst du auch einfach doof.


Ja, eine CED zu haben bedeutet oft alleine im Kopf und im Körper verfangen zu sein. Man fühlt sich oft nicht lebensfähig in einer Gesellschaft, die von schnelllebendem Egoismus, Alltagswochenendfluchten, heuchlerischem Miteinandergetue und unachtsamen Handlungsbedarf geprägt ist. Man ist auf einmal nicht mehr eine von vielen, sondern eine von 165.000 Menschen, die quasi eine individuelle Herde bilden. Ich denke, dass sich viele der "gesunden" Menschen eine ordentliche Portion von uns abgucken sollten, denn wir sind keine Minderheit, nur weil wir nicht mehr so leistungsfähig sind, wie ein normaler Mensch. Wir sind nicht schlechter oder besser, weil wir diese Krankheit haben. Wir machen eigentlich alles richtig. Wir gehen achtsam mit uns um, arbeiten in den meisten Fällen nur Teilzeit, machen nur so viel, wie wir können, wir ernähren uns gesund und abwechslungsreich, sind in Bewegung, aber nur so viel, wie der Körper halt hergibt. Wir sind nicht mehr auf 1000% aus, sondern entschleunigen. Wir bedanken uns tagtäglich für Dinge, die uns den Tag, auch wenn er Schmerzen mit sich brachte, gegeben hat, weil wir wissen, dass wir dem Abgrund schon mal sehr nahe waren und das Leben so wertvoll ist. Wir haben keinen Grund mehr uns zu betäuben, weil wir vor Schmerzen schon mal blind waren. Wir brauchen keine Realitätsflucht und keinen Alkoholrausch, weil wir wissen, dass man der Schattenseite der Realität auch gesund entkommt. Und weil wir wissen, dass es sich lohnt, sich mit den Schattenseiten auseinanderzusetzen, weil erst dadurch ein Umbruch im Leben erfolgt, der uns wachsen und am Leben lässt. Trotz der ganzen Schmerzen und der ganzen Dinge, die uns verwehrt bleiben, sind wir, so denke ich, viel reflektierter, liebevoller, achtsamer, emphatischer und näher am Leben dran, als so manch anderer.


Wisch und Weg. Augen auf und durch.




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